Zusammenfassung des Urteils Nr. 50/2012/13: Obergericht
In dem vorliegenden Fall handelt es sich um ein Berufungsverfahren vor dem Obergericht des Kantons Zürich, II. Strafkammer, bei dem es um den Angeklagten A. geht, der der einfachen Körperverletzung, mehrfachen Drohung und Nötigung schuldig befunden wurde. Das Urteil des Bezirksgerichts Affoltern vom 20. Dezember 2010 wurde angefochten. Die Vorinstanz verhängte eine Freiheitsstrafe von 18 Monaten, von der 226 Tage bereits durch Untersuchungs- und Sicherheitshaft abgedeckt waren. Zudem wurde eine ambulante Behandlung angeordnet. Die Gerichtskosten belaufen sich auf CHF 2'500.-. Die Staatsanwaltschaft unterlag mit ihrer Berufung, und die Kosten des Verfahrens wurden dem Angeklagten zu einem Viertel auferlegt.
Kanton: | SH |
Fallnummer: | Nr. 50/2012/13 |
Instanz: | Obergericht |
Abteilung: | - |
Datum: | 09.04.2013 |
Rechtskraft: | - |
Leitsatz/Stichwort: | Art. 333 Abs. 1 lit. a StPO/SH. Wiederaufnahme eines Strafverfahrens; Revisionsgrund der neuen Tatsachen oder Beweismittel |
Schlagwörter : | Befehl; Revision; Aufenthalt; Recht; Verfahren; Aufenthalts; Gesuchsteller; Tatsache; Ausländer; StPO/SH; Niederlassung; Wiederaufnahme; Einsprache; Verfahrens; Prozessordnung; Revisionsgr; Tatsachen; Niederlassungsbewilligung; Beschuldigte; Schweiz; Befehls; Beurteilung; Aufenthaltsbewilligung; Behörde; Entscheid; Kanton; Beweismittel; Verfahrens |
Rechtsnorm: | Art. 246 StPO ;Art. 335 StPO ;Art. 411 StPO ;Art. 453 StPO ; |
Referenz BGE: | 130 IV 74; |
Kommentar: | - |
Keine Veröffentlichung im Amtsbericht
Blosse Rechtsfehler bei der materiellen Beurteilung der tatsächlichen Grundlagen bzw. der Vorwurf an die Behörde, die Elemente falsch gewürdigt zu haben, von denen sie Kenntnis hatte, stellen keinen Revisionsgrund dar.
Das gilt im vorliegenden Fall für den Umstand, dass im Strafbefehl zu Unrecht davon ausgegangen wurde, die Niederlassungsbewilligung (Aufenthaltsbewilligung C) des Beschuldigten sei mangels Verlängerung des Ausländerausweises abgelaufen; der Beschuldigte habe sich daher ab diesem Zeitpunkt illegal in der Schweiz aufgehalten.
Mit Strafbefehl vom 15. April 2009 verurteilte das Untersuchungsrichteramt X. wegen rechtswidrigen Aufenthalts, Verletzung der Mitwirkungspflicht sowie Verletzung der Anund Abmeldepflicht zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten, teilweise als Zusatzstrafe zu einem früheren Strafbefehl, sowie zu einer Busse von Fr. 300.-; der Strafbefehl ist mangels Einsprache rechtskräftig geworden. Am 21. April 2012 liess X. beim Obergericht um Wiederaufnahme des Strafverfahrens ersuchen und beantragen, es seien die Rechtskraft und Vollstreckbarkeit des Strafbefehls in Bezug auf den Schuldspruch wegen rechtswidrigen Aufenthalts, die Freiheitsstrafe von 3 Monaten sowie die Verfahrenskosten zu beseitigen und die Sache zur Wiederaufnahme des Verfahrens im Stadium des Vorverfahrens an die Staatsanwaltschaft als Nachfolgebehörde des Untersuchungsrichteramts zu überweisen. Das Obergericht wies das Wiederaufnahmegesuch ab.
Aus den Erwägungen:
1.a) Am 1. Januar 2011 ist die Schweizerische Strafprozessordnung1 in Kraft getreten. Weil der strittige Strafbefehl vor diesem Datum gefällt wurde, gilt jedoch für das vorliegende Wiederaufnahmeverfahren das bisherige
Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO,
SR 312.0).
Verfahrensrecht (Art. 453 Abs. 1 StPO), das heisst in erster Linie die Schaffhauser Strafprozessordnung2.
b) Das Wiederaufnahmegesuch wurde vom dazu berechtigten Verurteilten beim zuständigen Obergericht formgerecht gestellt (Art. 334 Abs. 1 und Art. 335 Abs. 1 StPO/SH). Es ist an keine Frist gebunden (Art. 335 Abs. 2 StPO/SH). Somit ist darauf einzutreten.3
2.a) Der Gesuchsteller beruft sich auf den Revisionsgrund von Art. 333 Abs. 1 lit. a StPO/SH. Demnach kann die Wiederaufnahme eines durch Urteil, Strafbefehl, Strafverfügung durch andere Sachentscheide rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens verlangt werden, wenn Tatsachen Beweismittel vorliegen, die der urteilenden Behörde zur Zeit des früheren Verfahrens nicht bekannt waren und die allein zusammen mit den früher festgestellten Tatsachen geeignet sind, unter anderem den Freispruch eine wesentlich mildere Beurteilung eines Verurteilten zu bewirken.
Neu sind Tatsachen Beweismittel, wenn sie im Zeitpunkt des fraglichen Entscheids zwar bereits vorhanden waren, von der Justizbehörde aber nicht zur Grundlage des Entscheids gemacht worden sind, wenn sie etwa der Behörde zur Zeit der Entscheidfindung nicht bekannt waren, ihr überhaupt nicht in irgendeiner Form zur Beurteilung vorlagen von ihr trotz ihrer Bedeutung und Massgeblichkeit übersehen wurden. Nicht als neu gelten tatsächliche Grundlagen, wenn die Behörde lediglich deren Tragweite falsch gewürdigt hat. Neue rechtliche Überlegungen können nicht Grundlage für eine Revision bilden. Ein blosser Rechtsfehler genügt deshalb nicht für eine Revision. Der Vorwurf an die Behörde, die Elemente falsch gewürdigt zu haben, von denen sie Kenntnis hatte, stellt ebenfalls keinen Revisionsgrund dar. Rechtsirrtümer in rechtskräftig gewordenen Entscheiden sind irreparabel.4 Die Revision soll im Übrigen nicht dazu dienen, ein verpasstes Rechtsmittel nachzuholen.5
Bei der allfälligen Revision eines Strafbefehls ist sodann zu beachten, dass dieser einen dem Beschuldigten vorgeschlagenen Entscheid darstellt und
Strafprozessordnung für den Kanton Schaffhausen vom 15. Dezember 1986 (StPO/SH, SHR 320.100).
Vgl. zu Form, Frist und Zuständigkeit heute Art. 411 StPO i.V.m. Art. 43 Abs. 1 des Justizgesetzes vom 9. November 2009 (JG, SHR 173.200).
Thomas Fingerhuth in: Donatsch/Hansjakob/Lieber (Hrsg.), Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO), Zürich/Basel/Genf 2010, Art. 410 N. 54, 58, 60, S. 1983, 1985 f.; Marianne Heer, Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, Jugendstrafprozessordnung, Basel 2011, Art. 410 N. 3, 34, 37, 51, S. 2694 f., 2706 ff., 2712; je mit Hinweisen.
Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006, S. 1319.
nur dann rechtliche Wirkungen entfaltet, wenn er angenommen wird. Die Annahme geschieht dadurch, dass keine Einsprache erhoben wird. Lehnt der Beschuldigte den Vorschlag ab, so genügt es, Einsprache zu erheben, damit das Verfahren weitergeführt und gegebenenfalls das ordentliche Urteilsverfahren eröffnet wird (vgl. Art. 244 und Art. 246 StPO/SH). Weil der Strafbefehl auf einem vereinfachten Verfahren beruht, können dem Richter gewisse relevante Tatsachen entgehen. Namentlich aus diesem Grund kann der Beschuldigte auf einfache Weise mit Einsprache die Durchführung des ordentlichen Verfahrens verlangen. Im Rahmen dieses Verfahrens hat er Gelegenheit, sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht seine Argumente umfassend darzulegen. Das Strafbefehlsverfahren hat demnach die Eigenart, dass es den Beschuldigten zwingt, Stellung zu nehmen. Er muss innert Frist Einsprache erheben, wenn er seine Verurteilung nicht annimmt, weil er sich z.B. auf übergangene Tatsachen berufen will. Dieses System würde kompromittiert, wenn der Beschuldigte, nachdem er die Einsprachefrist unbenützt hat verstreichen lassen, auf seine so gegebene Zustimmung zurückkommen und nach Belieben die Revision wegen Tatsachen verlangen könnte, die er bereits in einem or-
dentlichen Verfahren hätte vorbringen können.6 Daher ist bei der Annahme von Neuheit Zurückhaltung anzunehmen, wenn es um Umstände geht, die zwar beim Erlass des Strafbefehls nicht berücksichtigt wurden, in den Akten
aber grundsätzlich bereits enthalten waren.7
Der Gesuchsteller macht als neue Tatsache geltend, dem Untersuchungsrichteramt sei nicht bekannt gewesen, dass er nicht über eine befristete Aufenthaltsbewilligung, sondern über eine unbefristete Niederlassungsbewilligung verfügt habe. Auch wenn die Kontrollfrist seinerzeit abgelaufen sei, ohne dass der Ausländerausweis verlängert worden sei, habe der Gesuchsteller dadurch nicht seine Niederlassungsbewilligung verloren. Er habe sich demnach nicht des rechtswidrigen Aufenthalts schuldig gemacht.
Die Staatsanwaltschaft räumt zwar ein, dass die rechtliche Beurteilung des Verhaltens des Gesuchstellers im Strafbefehl nicht korrekt gewesen sei. Sie ist jedoch der Auffassung, dabei handle es sich um eine falsche Rechtsanwendung, die mit dem zur Verfügung stehenden ordentlichen Rechtsmittel hätte gerügt werden müssen, und nicht um eine neue Tatsache ein Beweismittel im Sinn von Art. 333 Abs. 1 lit. a StPO/SH.
Im strittigen Strafbefehl wurde erwogen, der Angeschuldigte habe über eine Aufenthaltsbewilligung C verfügt, welche am 12. Dezember 2007 abgelaufen sei. Weil er die verlangten Dokumente zur Verlängerung des Ausweises nicht eingereicht habe, habe die Aufenthaltsbewilligung nicht ver-
6 BGE 130 IV 74 f. E. 2.3 = Pra 2005 Nr. 35, S. 261 f.
7 Vgl. Heer, Art. 410 N. 34, S. 2706 f.
längert werden können. Der Angeschuldigte habe sich deshalb seit 12. Dezember 2007 illegal in der Schweiz aufgehalten.
Die Aufenthaltsbewilligung C ist die Niederlassungsbewilligung (Ausweis C; Art. 71 Abs. 1 VZAE8). Diese ist von Gesetzes wegen unbefristet (damals Art. 6 Abs. 1 ANAG9; heute Art. 34 Abs. 1 AuG10). Verlängert wird jeweils nur der Ausländerausweis, der zur Kontrolle früher für höchstens drei Jahre ausgestellt wurde (Art. 11 Abs. 3 ANAV11); heute sind es fünf Jahre (Art. 41 Abs. 3 AuG). Läuft die Kontrollfrist ab, ohne dass der Ausweis verlängert wird, so hat das keinen Einfluss auf die Rechtsbeständigkeit der Niederlassungsbewilligung. Diese erlischt grundsätzlich nicht mit dem Ablauf der Gültigkeitsdauer des Ausweises.12 Sie erlischt auch nicht bereits mit einem Wohnsitzwechsel in einen andern Kanton als solchem13, sondern erst mit der Erteilung der neuen Bewilligung im andern Kanton (Art. 61 Abs. 1 lit. b AuG; früher Art. 9 Abs. 3 lit. a ANAG). Das Fazit im Strafbefehl, dass sich der Gesuchsteller ab 12. Dezember 2007 rechtswidrig in der Schweiz aufgehalten habe, war somit nicht korrekt. Das räumt die Staatsanwaltschaft selber ein.
Der Umstand, dass der Gesuchsteller die Aufenthaltsbewilligung C besass, war in den zu beurteilenden Strafakten als zentrales Element enthalten. Er wurde in den Erwägungen des Strafbefehls auch thematisiert und demnach in diesem Sinn grundsätzlich berücksichtigt. Dem zuständigen Untersuchungsrichter war bewusst, dass es dabei um die Niederlassungsbewilligung ging. Wenn er dennoch vom Ablauf nicht nur des Ausländerausweises, sondern der Bewilligung als solcher, d.h. im Ergebnis von deren Erlöschen ausging, hat er damit die aktenkundigen Umstände falsch gewürdigt; es handelt sich um einen Rechtsfehler bei der materiellen Beurteilung der Sache. Von einer neuen, seinerzeit nicht bekannten Tatsache einem neuen Be-
Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit vom 24. Oktober 2007 (VZAE, SR 142.201).
Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer vom 26. März 1931 (ANAG; BS 1, S. 121 ff.), gültig bis 31. Dezember 2007.
Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer vom 16. Dezember 2005 (Ausländergesetz, AuG, SR 142.20), in Kraft seit 1. Januar 2008.
Vollziehungsverordnung zum Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer vom 1. März 1949 (ANAV; AS 1949 I 228 ff.), gültig bis 31. Dezember 2007.
Peter Kottusch, Die Niederlassungsbewilligung gemäss Art. 6 ANAG, ZBl 1986, S. 516; zum heutigen Recht Zünd/Arquint Hill, Beendigung der Anwesenheit, Entfernung und Fernhaltung, in: Uebersax/Rudin/Hugi Yar/Geiser (Hrsg.), Ausländerrecht, 2. A., Basel 2009, S. 315, Rz. 8.6; Spescha/Thür/Zünd/Bolzli, Migrationsrecht, Kommentar, 3. A., Zürich 2012, Art. 41
AuG N. 8, S. 111 f., Art. 61 AuG N. 3, S. 169.
Vgl. die Aktenhinweise auf einen allfälligen Wegzug des Gesuchstellers aus dem Kanton Schaffhausen in den Kanton Schwyz
weismittel im Sinn von Art. 333 Abs. 1 lit. a StPO/SH kann in dieser Situation keine Rede sein. Die nachträgliche abweichende rechtliche Würdigung stellt insbesondere auch nicht etwa eine neue prozessuale Gegebenheit Rechtstatsache dar, die je nach den Umständen allenfalls einen Revisionsgrund bilden könnte.14 Zusammenfassend fehlt es somit am geltend gemachten Revisionsgrund.
Der Gesuchsteller hat im Übrigen der mit dem Strafbefehl vorgeschlagenen Verurteilung (auch) wegen rechtswidrigen Aufenthalts seinerzeit dadurch zugestimmt, dass er keine Einsprache erhoben hat. Es hätte ihm freigestanden, die bereits damals erkennbare und somit nicht neue Problematik mittels Einsprache überprüfen zu lassen, sei es durch einen neuen Strafbefehl ohne den strittigen Schuldspruch im Rahmen des ordentlichen gerichtlichen Verfahrens (vgl. Art. 246 StPO/SH). Würde die damalige unkorrekte rechtliche Beurteilung nachträglich als Revisionsgrund anerkannt, würde dies im Ergebnis bedeuten, dass der Gesuchsteller den seinerzeit nicht ergriffenen Rechtsbehelf trotz Fristablaufs nachholen könnte. Das liefe dem Zweck des Strafbefehlsund des Revisionsverfahrens zuwider.
Das Wiederaufnahmegesuch erweist sich somit als unbegründet; es ist abzuweisen ... Dem Gesuchsteller bleibt zur Korrektur der Wirkungen des Strafbefehls allenfalls der Weg der Begnadigung.15
Vgl. Hinweis auf Heer, Art. 410 N. 3, S. 2695 (wo als Beispiele der Strafantrag die Verjährung genannt werden).
15 Vgl. Heer, Art. 410 N. 4, S. 2695.
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